Erzählungen

„Ja“, sagte ich, und erzählte ihr:
„Es standen mitten in den Salzwiesen nicht weit voneinander entfernt zwei Bauernhöfe, beide gebaut auf einer Warft. Die beiden Bauern waren miteinander verfeindet, denn sie stritten ständig über Salzwiesengrundflächen. Der eine Bauer hatte einen starken Sohn, der andere eine wunderschöne Tochter. Wie es so geht im Leben, verliebten sich die beiden jungen Menschen ineinander. Der Streit zwischen den Vätern wurde dadurch noch heftiger. Die Ehefrauen versuchten zu vermitteln, aber ohne Erfolg. Die Frauen gingen zum Abt des Klosters Sankta Juliana und baten ihn, ihnen zu helfen. Das brachte auch nichts, aber der Abt betete jeden Tag für die Bauern und bat Gott, den Frieden wiederherzustellen. Die beiden Männer verhielten sich jedoch immer teuflischer zueinander.
Es war Mitte Januar 1362. Das Wetter wurde furchterregend schlecht und es entstand doch eine Sturmflut mit verheerenden Auswirkungen.
Auf den Bauernhöfen sah es bedrückend aus. Man hatte vorher Maßnahmen getroffen, aber die genügten nicht. Tiere ertranken im tobenden Wasser und plötzlich hörte der Bauer des starken Sohnes Hilferufe von einer jungen Frau. Ohne nachzudenken, nahm er sein Ruderboot, und rettete sie. Es zeigte sich, dass sie die Tochter seines Nachbarn war. Viel Zeit sich Gedanken darüber zu machen bekam er nicht, denn sein treuer Hund war weg. Er war sich bewusst, dass sein Hund im Wasser liegen müsse. Dieser konnte noch ein bisschen bellen, das war aber in solch einer furchterregenden Sturmflut nicht zu hören. Er fuhr aufs Neue mit seinem Boot hinaus, aber Bauer und Hund kamen nicht zurück.
Es ertranken in der zweiten Sankt Marcellusflut mehr als 25000 Menschen, von den ertrunkenen Tieren mal zu schweigen. Ganz eigenartig war es, dass es am gleichen Tag – dem sechzehnten Januar 1219 – noch eine Sturmflut, die erste Marcellusflut, gab mit mehr als 36000 ertrunkenen Menschen und unzähligen Tieren.
Die junge Frau hatte – mitten im Überlebenskampf – Gott versprochen, dass sie, falls sie gerettet werden sollte, ins Kloster ziehen würde. Als sie ihren Geliebten, nachdem die Sturmflut vorübergegangen war, traf, sagte sie ihm das sofort. Er war ganz niedergeschlagen, weil sein Vater und der Hund ertrunken waren. Jetzt bekam er diese unfrohe Botschaft. Es war ihm bewusst, dass die Heirat mit seiner Freundin in Ewigkeit nicht stattfinden würde.“
Ich trank aus der Flasche, die ich mitgenommen hatte, und fragte danach Roxanne, ob sie raten konnte, was die junge Frau ihrem Freund noch mehr gesagt hatte.
Roxanne antwortete mir, dass sie es nicht wüsste.
Ich erzählte Roxanne, dass die junge Frau ihrem Freund mitteilte, er müsse nicht traurig sein. Sie wolle nicht weit weggehen. Sie wolle Nonne im Kloster Bethlehem werden.
Ich trank erneut aus der Flasche, und fuhr fort mit der Geschichte:
„So änderte sich der Lebensweg von zwei jungen Menschen plötzlich. Das Ende war noch nicht in Sicht. Nach ein paar Jahren trat er ins Kloster Sankta Juliana ein. Der Bauernhof mit dem dazugehörenden Land ging zum Kloster über, und auch bei dem anderen Hof passierte nach einiger Zeit das Gleiche. Dieser Hof ging zum Nonnenkloster Bethlehem. Später wurde er Abt des Klosters Sankta Juliana und sie die Priorin des Klosters Bethlehem.
Die beiden liebten sich tief und innig bis zum Ende ihres Lebens auf Erden. Sie dankten an jedem Tag Gott, wie viel Gutes er ihnen getan hatte.“
„Das soll ich glauben! Du hältst das für ganz normal!“, sagte Roxanne heftig.
„Was ist ganz normal? Du solltest nicht vergessen, was für schöne Lieder sie über die Liebe geschrieben haben. Liebe hat so viele unterschiedliche Dimensionen!“, sagte ich.
„Ich glaube, dass deine Dimension der Liebe eine völlig andere ist als meine“, schlussfolgerte Roxanne.
„Das könnte so sein. Aber, hör zu, ich werde dir ein Gedicht von den beiden vortragen.“
Ich fing sofort damit an:

“Pater sancte, salvos nos fecisti per Filium tuum.
Mater Maria peperit eum, et pro nobis cruci affixus est.
Dolores gravissimos passus est, sed maledictum sub quo eramus victum est per passionem eius.
Gratias agimus tibi ex toto corde nostro tota die.
Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto.

Plenus charitate intueris nos et das nobis pacem tuam.
Non id intellegimus, et avertimur.
Dimittis nobis semper denuo et tenes nos.
Gratias agimus tibi ex toto corde nostro tota die.
Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto.

Creavisti nos et in tuo charitate convenimus.
Ostendis nobis mysteria vitae et non ea intellegimus.
Cum tuo adiutorio progressus facimus et miramur super te.
Gratias agimus ex toto corde nostro tota die.
Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto.

Cor nostrum ardens est et tenes nos in aeternum.
Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto.“

(Übersetzung)

Heiliger Vater, du hast uns wegen deines Sohnes gerettet.
Mutter Maria hat Ihn zur Welt gebracht, und für uns ist
Er am Kreuz gestorben.
Er hat fürchterlich gelitten, aber der Fluch, unter dem wir
standen, ist durch dessen Leiden besiegt worden.
Wir danken Dir von ganzem Herzen den ganzen Tag.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist.

Du siehst aus voller Liebe uns an und gibst uns Deinen
Frieden.
Wir verstehen das nicht und wenden uns von Dir ab.
Du vergibst uns immer wieder aufs Neue, lässt uns
nicht fallen und hältst uns fest.
Wir danken Dir von ganzem Herzen den ganzen Tag.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist.

 

Du hast uns geschaffen, und in Deiner Liebe sind
wir zueinandergekommen.
Du zeigst uns die Geheimnisse des Lebens und wir
verstehen sie nicht.
Mit Deiner Hilfe machen wir Fortschritte und staunen
über Dich.
Wir danken Dir von ganzem Herzen den ganzen Tag.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist.

Unser Herz sehnt sich unermesslich, und Du hältst uns
fest bis in die Ewigkeit.
Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist.

Ich fragte Roxanne, ob sie das Lied verstanden hatte.
„Einiges, aber du weißt, dass ich in der Schule nicht so gut in Latein war“, sagte sie.
Ich erklärte ihr schnell das Gedicht.
Dann erzählte ich weiter, dass Abt und Priorin so miteinander verbunden waren, dass sie annähernd zur gleichen Zeit sich von dieser Welt verabschiedeten. Sie hatten vereinbart, dass sie nebeneinander im Boden liegen wollten. Nach Vorschrift musste er auf dem Friedhof des Klosters Sankta Juliana und sie auf dem des Klosters Bethlehem beerdigt werden. Für sie beide war das zu weit auseinander. Sie wollten nebeneinander liegen. Wie verabredet, geschah das und wohl exakt zwischen den beiden Klöstern. Sie lagen nicht in einem Grab, sondern nah nebeneinander in zwei getrennten Gräber. Das stimmte jedoch nicht ganz, denn es gab eine Verbindung dazwischen. Er umfasste in seiner rechten Hand ihre linke und gemeinsam hielten sie mit diesen Händen ein metallenes Kreuz fest.“
„Das soll ich auch noch glauben! Woher weißt du das alles so haarfein?“, unterbrach Roxanne mich aufs Neue.
„Ich kann dir das erklären. Es war ein Teil meiner Doktorarbeit. Ich grub mit befreundeten Archäologen hier herum. Wir fanden nicht weit weg von hier die Reste dieser zwei Menschen und das verrostete, metallene Kreuz. Wir können den Ort gleich besuchen“, schlug ich vor.
Damit war Roxanne einverstanden und ich erzählte weiter, dass von den beiden Klöstern nichts übriggeblieben sei. Sie wurden entweder völlig zerstört oder sind abgerissen worden. Gott sei Dank fanden wir damals Reste, die wir haben untersuchen lassen, und es kam heraus, dass die Knochen aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammten. Nachher brachten wir die Reste dahin zurück, wo wir sie weggeholt hatten.“
Ich hätte Roxanne noch viel mehr Geschichten über die Kirchen und das Leben im Hoheland erzählen können, aber wir hatten keine Zeit mehr, denn wir wollten Rottum besuchen.
Innerhalb einer Viertelstunde erreichten wir das kleine Dorf. Es schien mir viel kleiner als früher zu sein. Es war aber möglich, dass ich mich irrte! Wir stellten unsere Fahrräder ab und wanderten durch das Dorf. Am Rande des Dorfes setzten wir uns hin und ich träumte.
Ich war Abt des Klosters Sankta Juliana und Roxanne Priorin des Klosters Bethlehem. Sie war eine virtuose Kleinformatmalerin, malte das Leben Christi intensiv, als ob sie von Gott begnadigt worden war. Ich begeisterte sie ständig aufs Neue, und sorgte dafür, dass sie Aufträge von Äbten anderer Klöster bekam. So wurde sie eine berühmte Künstlerin und wurde bekannt in halb Europa.
Plötzlich spürte ich einen Ellbogen in meiner rechten Seite. Es dauerte einige Zeit, bevor ich wach wurde und Roxannes Stimme hörte:
„Was war los mit dir?“ Du hast ganz leise einige Sätze gesagt und ich habe sie nicht verstanden“, fragte sie.
„Ich träumte von uns. Du warst die Priorin des Klosters Bethlehem und ich der Abt des Klosters Sankta Juliana und wir konnten ausgezeichnet zusammenarbeiten.“
„Ich die Priorin, das kannst du vergessen. Nein, nein, nein. Aber du darfst von mir aus ruhig Abt sein, dann weiß ich, was ich ausprobieren würde. Dich verführen, denn ich würde dich wiederholt besuchen und zur Beichte gehen. Die Beichtstühle sind ja schnuckelig klein, und ich würde mich auf deinen Schoß hinsetzen zum Schmusen.“
Ich unterbrach sie und sagte:
„Du weißt, dass es in einem Beichtstuhl so nicht hergeht, und du solltest nicht vergessen, dass ein Beichtstuhl zweigeteilt ist.“
„Ich könnte es doch versuchen“, sagte Roxanne.
„Im Leben kann man vieles versuchen, aber ob es jemanden glücklicher machen würde, das bezweifele ich“, sagte ich.
„Mich sowieso“, sprach sie entschlossen.
Wir blickten uns in die Augen, und wussten beide, dass wir uns bei diesem Thema nicht einigen würden. Traurig, aber es war so!
Es war eine Zeit lang still. Wir konzentrierten uns auf unsere Umgebung. Die Blätter fielen herab. Ein Auto fuhr durch das kleine Dorf. Eine ältere Frau kam aus ihrem Haus, ging aber schnell wieder hinein. Hatte sie uns gesehen? Ich spürte das Gleiche wie in Usquert.
Ich fragte Roxanne, ob sie das auch spürte.
„Ja“, antwortete sie, „ich spüre, dass du neben mir sitzt, dass es hier still ist, und nehme wahr, dass die Kirche nicht aus dem Mittelalter stammt.“
„Das hast du richtig wahrgenommen. Diese kleine neogotische Kirche wurde am Ende des neunzehnten Jahrhunderts auf den übrig gebliebenen Resten des Klosters Sankta Juliana gebaut. Die ursprüngliche Kirche war aber viel größer. Hier im Hoheland gibt es solche neogotischen Kirchen nicht. Sie ist also einzigartig“, teilte ich ihr mit.
„Könnten wir nicht weiterfahren?“, bat Roxanne mich.
„Das ist in Ordnung“, antwortete ich, „aber ich möchte dir noch einiges erzählen. Unterschiedliche Bistümer, zum Beispiel Utrecht, Münster, Köln, Fulda versuchten ständig im Mittelalter hier ihre Ansprüche geltend zu bringen. Ein Kloster stand mindestens in jedem Ort und sie konkurrierten ordentlich mit- einander. Das sorgte dafür, dass Warften und Deiche gebaut wurden, und so wuchs das Hoheland. Das Land war fruchtbar und dadurch begehrt.
Das Kloster Sankta Juliana wurde immer mächtiger und eines Tages Besitzer einer Insel vor der Küste. Der damalige Abt nannte diese Insel ´Rottum`.“
Wir gingen zurück zu den Fahrrädern, sahen, dass ein Mann vor einem Haus anhielt. Er schaute sich nervös um und verschwand im Haus. Es war, als ob er Angst hätte. An der Haustür anklingeln wollte ich nicht, denn eventuell wollte er uns Fremden keine Informationen geben über das was hier los war.
Einige Zeit später waren Roxanne und ich an dem Ort, wo ich vor Jahren mit befreundeten Archäologen gegraben hatte, und wir die Reste des früheren Abtes, der früheren Priorin und des verrosteten Kreuzes gefunden hatten. Dieses Ereignis war um die ganze Welt gegangen, und das wirkte sich auf meine Laufbahn als Kunsthistoriker vortrefflich aus.
Wir stellten die Fahrräder ab und sahen, dass viele Menschen uns vorangegangen waren, denn ein Trampelpfad führte uns zum Fundort.
„Was steht da auf dem Gedenkstein?“, wollte Roxanne wissen.
„Hier ruhen mit Gottes Segen und in Liebe zueinander Abt Meynoldus und Priorin Walburga.“
Über Meynoldus wusste ich nichts, aber über eine andere Walburga vieles. Die Priorin musste den Namen von der heiligen Walburga angenommen haben. Diese Walburga war die Schwester des heiligen Willibald und Wunibald. Im jungen Alter ging sie ins Kloster Windhorn in England.
Der heilige Bonifatius, der Missionar Deutschlands, brauchte für seine Klöster in Thüringen gottgeweihte Jungfrauen. Er holte sie aus England. Eine dieser Frauen war Walburga. Nach einer langen und schweren Reise erreichten sie endlich Thüringen, wo sich neben Bonifatius auch Walburgas Bruder Willibald befand. Die beiden Geschwister hatten einander jahrelang nicht gesehen, denn Willibald liebte es, unterwegs zu sein.
In den Klöstern herrschten die Regeln des heiligen Benediktes, also beten und arbeiten. Das machte Walburga so ausgezeichnet, dass sie ein Vorbild für alle anderen Nonnen war.
Ihr Bruder Wunibald kam auch nach Deutschland, und entschied, in Heidenheim ein Frauenkloster zu gründen. Er bat seine Schwester und andere Nonnen, in dieses Kloster zu kommen. Mit Begeisterung akzeptierte Walburga die Bitte ihres Bruders, denn sie sehnte sich danach unter seiner Führung noch näher zu Gott zu kommen und frommer zu werden. Die Einwohner Heidenheims staunten über das gottselige Leben dieser Jungfrauen, die vielem entsagten und sich selbst verleugneten zu Ehre Gottes. Das sprach sich in der Welt herum, und viele Menschen vererbten ihre Eigentümer dem Kloster. Menschen mit materiellen und seelischen Problemen wurden geholfen. Jugendliche bekamen Unterricht und immer mehr Jungfrauen traten ins Kloster ein.
Eines Tages lag eines Edelmanns Tochter auf dem Sterbebett zu Hause. Walburga hörte davon. Mitten in der Nacht eilte sie zu diesem Mädchen, und betete zu Gott um Heilung. Morgens früh begleitete Walburga das völlig gesunde Mädchen zu ihren Eltern. Sie saßen am Frühstücktisch, und wunderten sich darüber, dass sie ihre totgedachte Tochter lebendig wiedersahen. Voll Begeisterung, Dankbarkeit und Freude umarmten sie ihre wie neugeborene Tochter.
Die Eltern wollten Walburga reichlich belohnen, aber sie lehnte das in voller Überzeugung ab und sagte ihnen, dass es nicht ihre Heilungsarbeit, sondern die von Gott sei, und bat sie, Gott dafür zu danken.
Walburgas Bruder Wunibald starb 781. Das war für sie ein großer und schmerzlicher Verlust. Von ihrem anderen Bruder – dem Bischof Willibald – musste sie augenblicklich die Führung des Frauenklosters und auch noch die des Männerklosters übernehmen. Sie fand das eine zu schwere Last für sich, aber verweigern konnte sie diese Aufgabe nicht. Denn wie konnte sie Gott ungehorsam sein! Sie wandte sich an den Gottvater und den Sohn und den heiligen Geist, und ohne diese göttliche Unterstützung hätte sie ihre Aufgaben nicht bewältigt können.
Siebzehn Jahre lang war sie Äbtissin, und starb im neunundsechzigsten Lebensjahr. Ihr Bruder Willibald, der Bischof, ließ ihre Reste neben den Reliquien des Bruders Wunibald beisetzen. Beim Besuch von Gläubigen an diesem Grab der Geschwister passierten viele Wunder.
Die Klosterkirche zu Heidenheim wurde abgerissen, und neugebaut. Die Reliquien der Geschwister Walburga und Wunibald zogen von Heidenheim nach Eichstätt um. Später, nach 23 Jahren, wurde ein Teil der Walburga-Reliquien ins Kloster Monheim, in der Nähe von Eichstätt, gebracht. Während dieses Umzuges passierten bemerkenswerte Heilungen. Walburgas Brustknochen blieben in Eichstätt, daraus floss ein göttliches Öl. Dieses Wunder entdeckte man erst 1040, als in Eichstätt diese Brustknochen im Grab des Hochaltars der neuen Klosterkirche beigesetzt wurden. Viele kranke Menschen, die diese Kirche besuchten, wurden geheilt mittels dieses Öls.
Ich erzählte Roxanne diese Geschichte, aber ich war noch nicht fertig. Sie hörte mir zu:
„Siehst du, wie viele Personen hier bereits vor uns waren? Als wir damals die Reste, die wir zur Untersuchung hier entnommen hatten, später zurückbrachten und der Gedenkstein platziert war, stand kurz danach in der Zeitung, dass hier eine kranke Frau geheilt worden war. Viele Menschen erklärten das als Unsinn, aber ich wusste es besser. Hier lag Walburga, die den Namen der heiligen Walburga angenommen hatte, und wie du weißt, göttliche Wunder gibt es überall. Als sich das herumsprach, pilgerten mehr kranke Menschen hierhin und das passiert heute immer noch.“

„Napoleon Bonaparte war ein paar Wochen verschwunden. Niemand am Hof des Kaisers wusste, wo er war. Ausschließlich einige Personen aus seinem direkten Umkreis konnten Auskunft darüber geben, wo er sich befand, aber das war ihnen streng verboten worden.
Er war unterwegs zum Department Groningen in den Niederlanden und nicht als Kaiser, sondern inkognito als Arbeiter. Er hatte sich völlig vermummt und das so überraschend gut, dass niemand ihn erkennen konnte. Bevor er ging, arbeitete er als Gärtner im Garten des kaiserlichen Palastes. Als seine Frau Marie-Louise von Österreich durch den Garten ihren Mittagsspaziergang machte, wusste sie nicht, wer der Gärtner war, mit dem sie kurz über ein Beet, wo wunderschöne, farbige Blumen wuchsen, sprach. Napoleon hatte seine Haare wachsen lassen, trug einen Bart und Schnurrbart, lief ein bisschen krumm und sah schmutzig aus.
Ein paar Tage später ging er mit seinem Kumpel Marschall Michel Ney und seinem Lieblingssoldat Charles de la Croix in Richtung Niederlande. Im Norden des Departments Groningen brauchte man mindestens vierhundert Arbeiter zum Trockenlegen von Salzwiesen für den Bau eines langen Deiches von mehr als 12,5 Kilometer Länge und 4,5 Meter Höhe.
Die Niederlande waren seit 1810 ein Teil des französischen Kaiserreichs geworden. Als das Geld zum Bauen des Deiches über eine Anleihe zusammengekommen war, trat sofort ein napoleonisches Gesetz in Kraft. Dieses besagte, dass eingedeichte Salzwiesen Staatseigentum wären. Das sorgte dafür, dass die betroffenen Bauern Einspruch erhoben, basierend auf dem uralten Recht der Bauern, die Salzwiesen, die an ihr Grundstück grenzten, eindeichten, diese dann auch besaßen. Einige Zeit später bekamen die Bauern einen mündlichen Bericht, dass das napoleonische Gesetz nicht für früher entstandene Rechte galt.
Man fing sofort mit dem Bau des Deiches an, aber man wurde nervös, denn das amtliche Schreiben traf nicht ein. Gott sei Dank, Anfang Juni 1811 geschah dies doch. Es war höchstpersönlich vom Kaiser unterschrieben worden.
Napoleon war neugierig geworden, denn im Department Groningen wurde Land vom Wasser erobert. Er hatte bereits viel Land erobert, aber das war neu für ihn. Er dachte, da müsste er hingehen und nicht als Kaiser, sondern vermummt und schauen, was die hoheländischen Bauern dort so machten. Es wäre möglich, dass er von den Leuten da noch einiges lernen könnte. Der Beschluss stand fest, und Mitte Juli 1811 fingen Napoleon und seine zwei Kameraden an am Deichbau mitzuarbeiten.
Sie waren nicht die einzigen Franzosen, die da arbeiteten. Auch andere waren dort. Napoleon sagte nicht viel, denn er sprach noch immer mit einem korsischen Akzent.
Trotz langer Arbeitstage gab es Zeit für andere Beschäftigungen. Napoleon begegnete am fünften Tag einer jungen, hübschen Bauerntochter und er verliebte sich sofort in sie. Er machte mit ihr einen Termin für Sonntagnachmittag. Nördlich von Warffum, wo noch ein Haufen Stroh auf dem Acker lag, sollten sie einander treffen. Wie sie sich verständigt haben, bleibt immer noch ein Geheimnis, denn Napoleon sprach kein Hoheländisch, und die junge Frau kein Französisch. Napoleon hatte jedoch viel Erfahrung mit Frauen, und das hat er hochgradig ausgenutzt.
Dann war es Sonntag, die Zeit war für beide zu langsam vergangen, denn sie hatten doch so viel Sehnsucht, einander aufs Neue zu treffen. Jetzt waren sie hoch erfreut. Sie erzählte, dass sie auf einem Bauernhof hier in der Nähe wohnte, und Napoleon redete über seine Arbeit am Deich. Sie hielten Händchen, fingen an, einander zu streicheln und es dauerte nicht lange, bis sie miteinander knutschten. Mensch, das fühlte sich grandios an!
Falls jemand gelauscht hätte, dann hätte diese Person nach einiger Zeit das Folgende mitbekommen:

„Je t´aime, je t´aime, oui je t´aime! k Hol ook van die. Oh, mon amour. Zo as n overgevuilege golf komt en gaait, zo gaaiste, zo gaaiste, zo komste daip maank mien bainen en k hol t nait laanger oet. Je t´aime, je t´aime, oui je t´aime! k Hol ook van die. Oh, mon amour, comme la vague hypersensible. Je vais, je vais et je viens entre tes reins. Je me retiens, tu viens et tu vas à mon zizi. Je t´aime, je t´aime, oui je t´aime! k Hol ook van die. Oh, mon amour, mon amour. Hou n overgevuilege golf komt en gaait. Gaaiste deroet, gaaiste deroet en komste weer derien. Daip maank mien bainen, daip maank mien bainen en k hol mie nou wat terug. Je vais et je veins entre tes reins. Je vais et je veins de nouveau entre tes reins. Je t´aime, je t´aime, oui je t´aime. k Hol ook van die. Oh, mon amour, mon amour. Oh, mien laiverd, zunner lichoamelke laifde gaait t nait. Doe gaaist en komst daip maank mien bainen. Doe gaaist en komst daip maank mien bainen. Nou holste die moar ien! Non! Maintenant! Je viens!”

„Ich liebe dich, ich liebe dich, ja ich liebe dich! Ich liebe dich auch. Oh, meine Liebste. Wie eine überempfindliche Welle kommt und geht, so gehst du, so gehst du, so kommst du tief zwischen meinen Beinen, und ich halte es nicht länger aus. Ich liebe dich, ich liebe dich, ja ich liebe dich. Ich liebe dich auch. Oh, meine Liebste, wie eine überempfindliche Welle. Ich gehe, ich gehe, und ich komme zwischen deinen Hüften. Ich halte mich zurück, du kommst, und du berührst meinen Penis. Ich liebe dich, ich liebe dich, ja ich liebe dich! Ich liebe dich auch. Oh, meine Liebste, meine Liebste. Wie eine überempfindliche Welle kommt und geht. Du ziehst dich zurück und näherst dich wieder, herein und heraus. Tief zwischen meinen Beinen, tief zwischen meinen Beinen, und jetzt halte ich mich ein bisschen zurück. Ich gehe, und ich komme zwischen deinen Hüften. Ich gehe, und ich komme aufs Neue zwischen deinen Hüften. Ich liebe dich, ich liebe dich, ja ich liebe dich. Ich liebe dich auch. Oh, meine Liebste, meine Liebste. Oh, mein Liebster, ohne körperliche Liebe geht es nicht. Du gehst, und du kommst tief zwischen meinen Beinen. Du gehst, und du kommst tief zwischen meinen Beinen. Du hältst dich jetzt mal zurück! Nein! Jetzt! Ich komme!“
(Bearbeitung von: Je t´aime moi non plus – Jane Birkin und Serge Gainsbourg)

Es war warm und ab und zu gab es ein Gewitter. Hagelkörner kamen auch noch herunter. Allerdings war das Wetter nimmer so wichtig für mich gewesen, wohl die bildende Kunst. Bis jetzt begleiteten diese Kunst und auch die Musik mich. 

Anfang Juni 1979 besuchte ich Süd-Limburg – ich war vor nicht allzu langer Zeit von Groningen nach Utrecht umgezogen. Ich machte dort Urlaub und wollte das Festival „Pinkpop“ miterleben. Da im Süden der Niederlande traf ich eine junge, liebenswürdige und warmherzige Frau. Sie erzählte mir, dass sie eine gebürtige Kölnerin war und dass sie da noch ständig wohnte. Es klappte sofort wundervoll zwischen uns beiden. Wir verabredeten uns, zusammen „Pinkpop“ in Geleen zu besuchen, Wir beide hatten bereits im Vorverkauf unsere Eintrittskarten bekommen. Zusammen zu gehen, würde doch viel angenehmer sein!
Sie wollte am liebsten Peter Tosh hören. Ich hatte mehr Interesse an Mark Knopfler und seiner Band Dire Straits. Es lief jedoch völlig anders. Beide machten ausgezeichnete Musik, aber die Musik von The Police brachte uns den Himmel voller Gitarren. Ja, wir waren begeistert von:
„I Can´t Stand Losing You”, „So Lonely“, „Hole in My Life”, „Message in a Bottle”, aber am besten fanden wir „Roxanne”. Wir wurden von diesem Lied überwältigt.
Ja, warum The Police! Wir fühlten uns, als ob wir zu Hause angekommen waren. Durch diese Musik waren wir von Unbekannten plötzlich zu Bekannten geworden und es wurde noch viel schlimmer!
Ich verlor diese deutsche Frau nicht mehr aus den Augen. Wir tanzten voller Energie zusammen, fühlten uns eng und leidenschaftlich miteinander verbunden. Da machten, vom Blitz getroffen, die Musik und die Verliebtheit mich total verrückt. Ohne diese Erfahrung wäre ich garantiert ein anderer Mensch geblieben.
Ich dachte:
„Wie soll das weitergehen?”
Spät abends, als wir zurück zu meinem Hotel gingen, sangen wir ununterbrochen:
“Roxanne, you don´t have to put on the red light
Roxanne, you don´t have to put on the red light
Roxanne, you don´t have to put on the red light …”
Ich erklärte ihr spontan und von ganzem Herzen, dass ich sie liebte, als ich sie zum ersten Mal sah.
„Ich möchte dich nicht mit einem anderen Mann teilen”, fügte ich noch schnell hinzu.
Sie verschlang mich sehnsüchtig, als ob sie mit mir tausend Ozeane überqueren wollte. Als wir danach noch nicht so lange in meinem Hotelzimmer waren, fing sie an, mich ununterbrochen zu knutschen und flüsterte mir ins Ohr:
„Falls ich einst ein Kind bekommen möchte, dann würde ich dich als den geeigneten Erzeuger auswählen.”
Dann sagte sie eine Weile nichts mehr. Nach einiger Zeit flüsterte sie mir ins Ohr:
„Würde es ein Mädchen sein, dann würde ich es Roxanne nennen.”
Ich hatte nichts dagegen und flüsterte ihr ins Ohr:
„Das ist ja deine Sache, denn ich würde lediglich der Erzeuger sein!”
Gegen ihre Verführungskraft war ich machtlos. Mit einer Geschwindigkeit eines Eilzuges zog sie mir die Klamotten vom Körper und wenig später war sie auch nackt. Da lagen wir dann, so nah aneinander. Näher war unmöglich. Sie verzauberte mich total. Alles was sie machte war reine Magie. Bei jeder Bewegung, bei jedem Atemzug ihrerseits spürte ich mein Herz intensiver schlagen. Ich sehnte mich unablässig stark nach ihrer kräftigen Umarmung. Es fühlte sich an, als ob wir Geister in einer spirituellen Welt geworden wären. Soweit ich noch im Stande war zu denken, dachte ich:
„Ohne sie kann ich nicht weiterleben.”
Am nächsten Morgen, als ich aufwachte, war sie verschwunden. Das Bett war ohne sie viel zu groß geworden. Das Fenster stand auf und ein sanfter Wind wehte durch das Zimmer. Am liebsten hätte ich weitergeschlafen, aber das gelang mir nicht mehr. Ich wollte wissen, wo sie hingegangen war.
Ich stand auf und sah auf dem Tisch einen Zettel liegen. Darauf hatte sie geschrieben:
„Ich danke dir. Mit niemandem habe ich bis jetzt solches erlebt. Ich werde dich vermissen und nicht vergessen. Dennoch ist es besser so. Nochmals vielen Dank.”
Ihr Name stand nicht auf dem Zettel und ihre Adresse darauf zu schreiben, daran hatte sie offensichtlich nicht gedacht. Sie hatte mir erzählt, als wir einander kennen gelernt hatten, dass sie Maria hieß. Aber sie könnte ebenso gut einen anderen Namen haben! Da stand ich dann mit einem versteinerten Herzen und ich fühlte mich so einsam, so einsam, so einsam.
Das, was passiert war, davon verstand ich überhaupt nichts. Als ob ein Loch in meine Seele geschleudert worden wäre und ich wüsste nicht, wie ich es heilen könnte. Meine Welt lag in Trümmern. Am liebsten wäre mir gewesen, es wäre erneut dunkel geworden. Das Tageslicht konnte ich nicht mehr ertragen.
“Lass es doch Nacht werden”, sprach ich mir selbst zu. 

Sie war gegangen und ich musste weiter machen. Die Tage, die ich noch in Süd-Limburg verbrachte, dauerten für mein Gefühl tausend Jahre. Wie konnte ich ohne sie noch weiterleben. Eine Antwort darauf bekam ich nicht. Ich fühlte mich so im Stich gelassen, so im Stich gelassen, so im Stich gelassen und in meinem Kopf spielte The Police ohne Pause:
„So lonely, so lonely, so lonely …”
Dann, am vorletzten Tag meines Urlaubes sprach eine Stimme in meiner Seele und sagte:
„Besuch die Verstorbenen.”
Im Hotel erkundigte ich mich, wo hier in der Nähe ein Friedhof war. Man erzählte mir, der amerikanische Kriegsfriedhof „Margraten” läge nicht weit entfernt von hier.
Fast den ganzen Tag lief ich dort, wie in einer menschenleeren Wüste, herum. Als meine Beine versagten, fing ich an zu halluzinieren.
In einer Flugmaschine zerbombte ich im zweiten Weltkrieg Köln. Die Maschine wurde heruntergeschossen. Mit meinem Fallschirm landete ich dort sanft und sicher in den Armen einer hübschen, jungen, warmherzigen Frau. Ich konnte bei ihr ohne Probleme untertauchen. So wurde ich von ihr im Krieg gerettet und überlebte ich ihn. Wir liebten einander lebenslang leidenschaftlich und wir blieben glücklich zusammen.
Ein Friedhofsgärtner fand mich über einem der tausend Kreuze hängend. Er brachte mich freundlicherweise Arm in Arm zum abgeschlossenen Ausgang. Es war längst 17.00 Uhr gewesen. Um diese Zeit ging immer die Pforte zu. Wie ich mein Hotel erreichte, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, dass der Gärtner mich in seinem Auto zurück ins Hotel gebracht hatte.

Wie unterschiedlich alte Friedhöfe sein können, entdeckte ich auch auf meinen Reisen in Deutschland. Wegen meiner Arbeit war ich dort viel unterwegs. Ich besuchte Dome und Friedhöfe, zum Beispiel jüdische Friedhöfe. Es gab keinen größeren Unterschied als zwischen dem in Neviges und dem in Worms für mich.
Als ich den Mariendom in Neviges – den eindrucksvollen, klotzigen Gottfried Böhm Betonbau, aber innerhalb dieses Domes herrscht eine atemberaubende Atmosphäre – besucht hatte, musste ich noch einen langen Spaziergang machen, um den jüdischen Friedhof dort zu erreichen. Ich wanderte durch die Innenstadt und kam durch die Unterführung der Bahnstrecke Wuppertal-Essen auf der Donnenberger Straße heraus. Bei „Unter Lünes“ verließ ich diesen Weg und nahm die Alaun Straße. Nach so ungefähr fünfhundert Metern bog ich links ab in Richtung Zwingerberger Weg. Als ich nach einiger Zeit auf den Wanderweg kam, musste ich noch zehn Minuten gehen. Unterwegs genoss ich die ausgezeichneten Ausblicke – mit der Windrather Kapelle in der Ferne.
„Wie reizvoll ist hier das Niederbergische Land”, dachte ich damals.
Dann, mitten im Kuhlendahl, nicht weit weg von Halfmannsberg, lag der jüdische Friedhof. Ich wäre fast daran vorbeigelaufen. Unter Stacheldraht hindurch kam ich auf den völlig verwahrlosten, ungepflegten Friedhof. Gras und Unkraut wucherten überall und viele Grabsteine konnten jederzeit herunterstürzen. Es wurde mir sofort klar, dass hier nicht viele Leute mehr hinkamen. Ich setzte mich in voller Stille hin und verblieb da mindestens eine Stunde, tief in mir selbst versunken.
Ich verließ den Friedhof und ging weiter und erreichte nach einer Viertelstunde die Bernsaustraße. Ich lief entlang die Kläranlage und so kam ich aufs Neue in Neviges an. Ich war zu lange auf dem Friedhof gewesen, dass ich keine Zeit mehr hatte, um Schloss Hardenberg zu besichtigen, denn ich wollte die nächste S-Bahnzug erreichen. Das klappte und ich fuhr zurück in Richtung Köln. In Vohwinkel stieg ich um.
Wie anders war es auf dem gepflegten Wormser Friedhof „Heiliger Sand”. In Worms musste ich nicht einen langen Rundgang, wie in Neviges, machen. Nein, der Bahnhof, der jüdische Friedhof und der Dom „Sankt Peter“ liegen nicht weit voneinander entfernt. Über die Bahnhofstraße erreichte ich schnell den „Heiligen Sand”. Lange war ich da nicht, denn ein Lärm von Mäh- und anderen Maschinen hießen mich auf dem Friedhof unfriedlich willkommen. Dutzende von Friedhofs-arbeitern waren beschäftigt den Friedhof gepflegter zu machen. Ich lief da noch nicht eine Viertelstunde herum und entfloh dann mit einem unerträglichen Krach in meinem Kopf den Friedhof. Ich brauchte Ruhe und über die Andreasstraße erreichte ich schnell den Dom. Als ich drinnen war, setzte ich mich sofort in eine Bank hin. Ich konnte es nicht fassen, dass ich ausgerechnet auf dem „Heiligen Sand” war, als da so viele Arbeiter ihre Arbeit erledigen mussten.
Mein Kopf wollte nicht zur Ruhe kommen und vieles flog hindurch:
„Im Staub versunken und das Tier verschwand in die Kälte. Dünne Luft umkreisten die grauen Wände. Aufrecht gehen war ein beispielloser Versuch, sich selbst nicht zu verleugnen. Schweigende Steine, die eine Gruft installierten, unter Mengen von Vorwürfen. Stille, Stille auf dem Pfad der Leugnung. Sie klammerte sich fest wie eine Blume der Unglückseligkeit. Spring, spring und werde federleicht. Kreuzende Wege wurden von Fahrzeugen weitergetrieben, bis die Feierlichkeiten wie Fruchtfleisch im Trichter verschwanden. Unerschütterlich schuftete er weiter, bis die stillen Figuren nicht mehr atmeten. Tiefes Wasser mit Beamten, wie schleichende Entbehrungen der verlockenden Ruderboote …”
Ich brauchte diese Technik der Sätze-Bildung, als ich enttäuscht war, unter Druck gelangte, nervös, oder aufgeregt wurde. Ich kam zur Ruhe, als ich diese Technik anwendete. Wiederholt passierte es, dass die Worte ganz normal bei mir hochkamen und ich einen Stift und Papier brauchte, um alles schnell aufzuschreiben. Ich gewöhnte mich daran, immer dieses Zeug bei mir zu haben.
Nach einer Ewigkeit verließ ich den Dom, ohne mir bewusst zu sein, was ich darin an Sehenswürdigkeiten verpasst hatte. Als ich dann draußen war, hatte ich kein Interesse mehr, mir das Lutherdenkmal anzuschauen. Ich beeilte mich, den Bahnhof zu erreichen. Da musste ich noch eine Zeit lang warten, bis ich den Zug Richtung Heidelberg bekommen konnte. Als ich mich beim Studieren der Werbeplakate ablenken wollte, fing es in meinem Kopf erneut an zu krachen. Ich versuchte sofort, den Strom der Sätze aufrechtzuhalten. Das geling mir mit Mühe. Ich bemerkte erfreulicherweise, dass der Zug eingefahren war und ich stieg ein. Um Heidelberg zu erreichen musste ich in Mannheim umsteigen.

Ich stand damals im Zelt und wurde völlig überrascht. In diesem Zelt flogen Vögel herum und man konnte sich Filme anschauen. Vor noch nicht so langer Zeit hatte ich die Einladung für ihre große Ausstellung bekommen. Da ich der Eröffnung nicht beiwohnen konnte, besuchte ich die Ausstellung eine Woche später.
Sie war eine phänomenale und berühmte Künstlerin, hatte im In- und Ausland ausgestellt. Die Kritiken über ihre Arbeiten waren immer lobend. Ein Kritiker hatte behauptet, dass sie bald die berühmteste Künstlerin der Welt werden könnte.
Ich kannte sie bereits jahrelang. Wir hatten uns einst auf einer ihrer Ausstellungen getroffen. Sie erzählte mir damals:
„Mein Leben ist Kunst und meine Kunst ist Leben.“
Weiter erfuhr ich, dass sie fünf Kinder hatte. Da war einiges schiefgelaufen! Die Kinder hatten unterschiedliche Väter. Von einem Mann jedoch hatte sie zwei Kinder bekommen. Das war nicht so geplant gewesen! Selbst hatte sie alle Kinder großgezogen, natürlich mit Hilfe von anderen Personen.
Sie bat mich einmal dringend, als ich sie einst in ihrem Atelier besuchte, ob ich nicht mit ihr ein Kind zeugen möchte. Sie versuchte mich mit allen Mitteln an sich zu ziehen. Ihrer Meinung nach war die Couch in ihrem Atelier dafür affengeil geeignet. Unterdessen hatte sie mich losgelassen und angefangen sich auszuziehen.
Schnell machte ich ihr klar, dass mir das nicht gefiel. Ich teilte ihr augenblicklich mit, ich sei ein ausgebildeter Kunsthistoriker, jetzt ein Kunstvermittler/Kunstkritiker und überzeugt von bestimmten Prinzipien. Einige davon lauteten, dass ich Distanz zu Künstlern und Künstlerinnen bewahrte und weiter, dass ich kein Teil eines Kunstwerkes werden wollte. Sie sollte Verständnis für mich haben, dass ich nicht auf ihre Einladung eingehen würde.
Ihre Augen hatten soeben noch unglaublich geglänzt, aber in kürzer Zeit standen sie weit offen von Erstaunen. Sie wusste erst nichts zu sagen.
Ich dachte, sie habe dies noch nicht in ihrem Leben mitgemacht. Mir war bekannt, dass sie von vielen Männern begehrt wurde und ein potenter Mann hatte solch einem Angebot von ihr doch sofort akzeptiert. Sie, die wollüstige, eigensinnige Künstlerin bekam jetzt nicht, was sie wollte. Sie bekam doch immer, was sie sich in den Kopf gesetzt hatte!
Ich sagte ihr:
„In der wahren Kunst kann es passieren, dass man mit Enttäuschungen leben muss. Aus solch einer Erfahrung kann jeder Künstler/jede Künstlerin lernen.“
Sie musste darüber nachdenken und sagte mir nach einiger Zeit:
„Ich werde diese Sichtweise nicht vergessen. Enttäuschungen gehören auch zum Leben, aber ich habe sie noch nicht so erlebt. Ich habe bis jetzt alles bekommen, was ich wollte. Ich wollte ganz früh eine berühmte Künstlerin werden und viele Kinder gebären. Daran habe ich tüchtig gearbeitet.“
Ich glaubte das gerne. Denn sie erzählte mir, die Väter ihrer Kinder seien einflussreiche Männer. Ich hatte nicht das Bedürfnis sie zu fragen, wer sie waren. Dachte, sie sei nicht ausschließlich über diese Männer so berühmt geworden. In ihr steckten auch wahnsinnig schöpferische Kräfte.
Sie fing sofort an, von ihrer Kunst mich zu begeistern:
„Auf der Kunstakademie habe ich gezeichnet und gemalt. Es war nicht mein Ding. Farbe kann man benutzen zum Anstreichen von Fensterrahmen, aber damit malen, nein, das verstand ich nicht. Zeichnen bedeutete für mich ausschließlich Entwürfe für Gebäude, für Städte zu machen.
Nein, ich war mir ganz schnell bewusst, dass ich körperlich aktiv sein musste. Ich dachte erst, dass die Bildhauerei für mich geeignet war. Das war jedoch ein Irrtum.
Glücklicherweise gab es auf der Kunstakademie einen Professor, der draußen in der Natur arbeitete. Er grub in der Erde und machte damit wunderliche Skulpturen. Ließ Wasser über Naturobjekte fließen und bestreute die auch mit unterschiedlichen Samen.
Er und ich spürten sofort einiges füreinander und es wurde eine fruchtbare Zusammenarbeit – ich bekam noch ein Kind von ihm. Im Anfang beeinflusste er mich stark, aber allmählich ging ich meinen eigenen Weg.“
Im Laufe der Zeit wusste ich, wie dieser Weg aussah, denn ich redete häufig mit ihr und besuchte all ihre Ausstellungen und ab und zu hielt ich die Eröffnungsrede.
Sie grub und säte nicht so wie ihr Professor. Wenn sie grub, dann wurden ihre Skulpturen sanfter. Es konnte passieren, dass sie auch erstaunlich groß wurden. Sie benutzte andere Samen und auch Tiere. Ihrer Ansicht nach waren Maulwürfe richtige Mithelfer für sie und ihnen kamen immer mehr dazu: Bienen, Hühner, Ziegen, Hunde, Schafe und unterschiedliche Vögel.
Sie machte Klanginstallationen mitten in Museen und die wurden immer größer. Dann standen da ganze Gerüste, mit Planen abgedeckt. Sie hatte keine Mühe, Assistenten und Assistentinnen zu bekommen, um auf den Gerüsten mitzuhelfen. Am liebsten wollte sie dann, dass ganze Museum entweder umbauen oder abreißen.
Es passierte, dass sie während einer ihrer Ausstellungen in Deutschland ein Fenster im Dach des Museums baute. Sie hatte, ihrer Meinung nach, mehr Tageslicht gebraucht und sie wollte eine Farbinstallation errichten. Sie hatte das natürlich längst vorher geplant und mit dem Kultur und Kunstdezernent alles besprochen. Er war wild begeistert von ihrem Plan.
Sie hatte sich die Bauzeichnungen des Museums zuschicken lassen. Ein bekannter Sachverständiger hatte die Größe für das neue, zu installierende Fenster ausgerechnet. Danach hatte sie einen bunten Entwurf für ein Glasfenster gemacht. Alles wurde nach den Regeln der neusten Technik zusammengefügt.
Dann wurde das Gerüst abgerissen und auf einem anderen Platz im Museum aufgebaut. Danach fing das ganze Theater mit den Behörden an. Das Baudezernat meinte, dass das Fenster sofort entfernt werden müsste, denn es war nicht genehmigt worden. Das Kultur und Kunstdezernat meinte das Entgegengesetzte. Kunst dürfte nicht zerstört werden. Das war in der Geschichte Deutschlands einst auf schlimme Art und Weise passiert. Das brauchte man nicht zu wiederholen. Die Fronten standen sich hart gegenübereinander. An der Seitenlinie genoss die Künstlerin fantastisch davon.
„Das ist ja Leben, das ist ja Kunst,“ sprach sie dann lautstark zu mir.
Eine Kommission wurde gebildet, um das Ganze zu beruhigen und zu einer Lösung zu kommen. Ich kam als Vertreter der Künstlerin in diese Kommission. Zugunsten von ihr wurde alles unübertroffen geregelt.
Verabredet wurde, dass das Fenster in Zusammenarbeit von Baudezernat und, Kultur und Kunstdezernat feierlich, während der Ausstellungsdauer, eingeweiht werden sollte. Das Baudezernat wurde verpflichtet eine Sofortgenehmigung für das Fenster zu erteilen.
Bevor die Dezernenten sich einigten, verging einige Zeit. Der Baudezernent wollte so lange reden wie sein Kollege. Diese Person fand das in Ordnung, aber sagte dies nicht. Er schlug vor, dass es vielleicht besser wäre, dass sie sich würden vertreten lassen. Sie könnten jemanden aus ihren Ämtern vorschlagen. Innerhalb von zwei Tagen müsste das geregelt sein. Der Baudezernent fand das okay, ohne darüber nachgedacht zu haben
Der Kultur und Kunstdezernent hatte für solche Fälle immer eine Stellvertreterin. Sie war seine Kultur und Kunstamtsleiterin. Eine junge, hochbegabte, bescheidene und promovierte Kunsthistorikerin, also eine deutsche Kollegin von mir.
Der Kultur und Kunstdezernent war mit dem richtigen Parteibuch weit hochgekommen. Er erzählte häufig, er habe von Kultur und Kunst keine Ahnung. Das sei nicht so schlimm, denn dafür habe er das richtige Personal im Hause. Es zeigte sich, dass die Kultur und Kunstamtsleiterin sein Liebling war.
Seine Kollegen kannten ihn als einen schlauen Vogel. Er hatte überall seine Kontakte, konnte mit jedermann und -frau reden, aber sagte nicht zu viel und auch nicht zu wenig. Früher war er ein bekannter Fußballspieler in der Stadt gewesen. Er war also ein Junge der Stadt und hatte dort Karriere gemacht. Mindestens zehn Jahre war er Dezernent und in seinem Amt nicht wegzukriegen.
Das mit dem Fenster war für ihn eine erlesene Gelegenheit, um seine Stadt in die Schlagzeilen der Medien zu bekommen. Das roch er auf Distanz.
Für ihn war das Marketing und die Promotion der Stadt am wichtigsten. Er wollte dafür ganz gerne ein Dezernat gründen und davon dann Dezernent werden. Eine Mehrheit im Stadtrat dafür bekam er nicht. Auch wollte er vor einigen Jahren Oberbürgermeister der Stadt werden, aber das ging völlig daneben. Nachher konnte er schadenfroh miterleben, dass der Kandidat seiner Partei bei den Wahlen verloren hatte. Er blieb schön Dezernent.
Sein bester Freund, der Kämmerer der Stadt, sagte ihm wiederholt, er müsse noch Geduld haben.
„Eines Tages wirst du ohne Frage Oberbürgermeister, aber nicht hier, sondern in einer anderen Stadt“, vorhersagte er ihm.
Der Baudezernent war ein ganz anderer Typ. Er war mehr ein Techniker und Paragraphen-Idiot. Er hatte so viel zu tun, dass er keine Zeit zum Finden eines Stellvertreters hatte. Im Bauamt arbeiteten kaum Frauen, sonst hätte er vielleicht eine Stellvertreterin ins Museum geschickt.
So kam es, dass ausschließlich die Kultur und Kunstamtsleiterin zur feierlichen Einweihung des Fensters im Museum redete. Sie machte das in Anwesenheit von vielen Menschen so ausgezeichnet, dass ich ihre Rede, die ganz inspirierend war, immer behalten werde.
Sie erzählte den Anwesenden über Joseph Beuys, der am Ende des Jahres 1978 einen Artikel mit dem Titel „Aufruf zur Alternative“ in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht hatte.
Darin steht, dass die ganze Gesellschaft todkrank sei. Es gebe einen Rüstungswettlauf, eine Umweltzerstörung, eine Wirtschaftskrise und eine Bewusstseins- und Sinngebungskrise. In der Welt finde eine Zerstörung von Rohstoffen, Energie und kreativem Vermögen statt. Einerseits würden Menschen krank, weil sie zu viel aßen und/oder sich falsch ernährten und anderseits verhungerten viele Menschen. Für Joseph Beuys gäbe es keinen Unterschied zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Die Lösung dieser Probleme läge für ihn im Denken und Handeln des Menschen selbst. Er benutzte hier den Begriff der „sozialen Plastik“, den er vom Gründer der Anthroposophie, Rudolf Steiner, in Anlehnung an den Begriff „sozialer Organismus“ übernommen hatte.
In gewisser Weise war Rudolf Steiner der Lehrmeister von Joseph Beuys. Seine Lehre über die Entwicklungsstufen der Natur: Mineral, Pflanze, Tier und Mensch war für Joseph Beuys eine wahre Inspirationsquelle.
Danach sprach sie über Eva Durbinsky:
„Wie sehe ich im Hinblick auf Joseph Beuys Eva Durbinsky, die hier ein aufsehenerregendes Loch im Dach des Museums gebaut hat?
Die Schlange im ersten Buch Moses verführte Eva und sie verführte ihren Mann Adam! Eva Durbinsky verführt nicht ausschließlich Männer, sondern auch jeden Menschen, der jetzt dieses Museum besucht. Damit möchte ich nicht behaupten, dass wir hier im Kunstparadies sind. Sie ist in ihren Arbeiten noch viel extremer als Joseph Beuys jemals gewesen ist. Sie bindet einem toten Hasen keine Stöcke an; sie benutzt und isst keine tierischen Produkte; ihre Werke verschwinden entweder langsamer oder schneller in der Natur, Museen, und Kunstsammlungen.
Sie behauptet immer, dass nach ihrem Hingehen ihre noch bestehenden Kunstwerke nicht lange existieren würden. Sie würden denselben Weg gehen, wie ihre Werke und Installationen, die bereits gegangen und nicht mehr in Materieform unter uns sind.
Ich denke, dass sie keine ´soziale Plastik`, sondern ´spirituelle Plastik` schafft. Sie möchte die Seele des Menschen berühren und sie auf diesem Wege verändern. Das ist eine ganz große Aufgabe, die sie sich selbst immer stellt.
Jetzt sehen wir dort im Dach ein großes, grandioses Fenster, das bestimmt nicht rechteckig ist, sondern eindrucksvoll geformt, um uns einzuladen, es zu streicheln. Auf welcher Weise würden wir jedoch dahin kommen? Ich meine, geistig wäre das nicht auszuschließen, aber wir könnten uns auch von einer beweglichen Arbeitsbühne dahin transportieren lassen!
Die Verglasung sorgt dafür, dass bei einem bestimmten Sonnenstand ein farbenfrohes Kreuz auf dem Fußboden entsteht.
Eine Frage habe ich noch und sie lautet: Steht dieses Fenster nicht im Widerspruch zu dem was sie über ihre Arbeiten behauptet? Dass ihre Werke nicht lange existieren werden. Mir ist klar, dass dieses Fenster ganz lange in unserem Museum behalten bleiben wird.
Einerseits kann man das Fenster als Fenster, wie ein normales Fenster in einem Dach, betrachten. Das Museum würde das Fenster nach dieser Ausstellung ohne Frage nicht entfernen. Es würde sich selbst ins eigene Fleisch schneiden, ein Eigentor schießen und das bringt absolut nichts. Das Dach ist völlig wasserdicht und die Verglasung ist eine unzerbrechliche, lichtechte Doppelverglasung. Also was könnte da passieren, es ist für die Ewigkeit gemacht!
Anderseits sorgt das einfallende Licht für ein berauschendes Farbenmuster auf dem Fußboden und den Wänden. Das ist echte Malerei, die man ausschließlich erträumen könnte. Man transzendiert in nicht zu fassende Erlebnisse. Hier ist eine atemberaubende Spiritualität bis ins Jenseits entstanden. Das Museum ist an dieser Stelle ein Gotteshaus geworden.
Ich gratuliere unserer Stadt, unserem Museum und nicht zu vergessen den Einwohnern unserer Stadt, dass hier solch eine spirituelle Plastik entstanden ist. Das Museum hier wird bestimmt ein Wallfahrtsort für kunstbegeisterte Pilger werden.
Als letztes möchte ich unserer Oberbürgermeisterin, unserem Baudezernent und unserem Kultur und Kunstdezernent Danke sagen, für alles was sie hier geleistet haben. Ohne ihre Bereitwilligkeit, ihr Mitdenken und ihre Solidarität mit der Kunst wäre das Fenster nicht entstanden.“
Die Oberbürgermeisterin war zufrieden über die Rede, hauptsächlich weil sie genannt wurde, denn sie hatte für das Entstehen des Fensters nichts getan.
Der Baudezernent lachte wie ein Scheinheiliger. Er konnte nichts dafür, dass er so wenig Zeit hatte, sich ernsthaft um das Fenster zu kümmern.
Der Kultur und Kunstdezernent lobte seine Kultur und Kunstamtsleiterin in höchsten Tönen. Solch eine Rede hätte er nicht hinbekommen. Ach ja, sie hatte dafür studiert. Das Museum profitierte in hohem Maße vom Fenster. Die Zeitungen aus dem ganzen Land, aus der ganzen Welt veröffentlichten das ganze Theater rund um die Ausstellung und die feierliche Einweihung des Fensters. Im Fernsehen wurde darüber berichtet und tausende von Menschen wollten das ganz künstlerisch gestaltete, immer berühmter werdende Fenster bewundern. Tage lang standen ganze Schlangen von Kunstbegeisterten vor dem städtischen Museum. Die Ausstellung wurde um zwei Monate verlängert und der Kultur und Kunstdezernent rieb sich die Hände bei solch einem Erfolg. Er freute sich so, dass er aufs Neue recht gehabt hatte. Jetzt wusste das ganze Land, die ganze Welt, was hier in dieser Stadt für die Kunst getan wurde.
Ein Jahr später wurde meine befreundete Künstlerin ins Ehrenbuch der Stadt eingetragen.
Wiederholt hörte ich von ihr:
„Ich danke dir.“
„Du brauchst mir nicht zu danken. Ich tat es für die Kunst und auch für dich“, antwortete ich dann.
Danach wurde unsere Beziehung immer tiefer.

Jetzt stand ich im Zelt und wurde von ihr völlig überrascht begrüßt. Sie war also auch hier und wollte noch an ihrer Ausstellung arbeiten.
Wir waren froh einander zu treffen. Umarmten uns und dann war es still. Nach einer Weile erzählte sie mir, diese Ausstellung sei ihre letzte.
„Warum?“ fragte ich sie.
„Ich bin schwer krank und werde mich hier auf dieser Welt nicht so lange mehr aufhalten.“
„Oh, oh …“ sagte ich fassungslos.
„Ich habe noch eine Bitte an dich“, kam leise über ihre Lippen.
„Diese ist?“, wollte ich wissen.
„Du weißt, dass ich einst versucht habe, dich zu verführen. Du hast das abgelehnt. Jetzt möchte ich dich nicht mehr verführen, aber du würdest mich sehr glücklich machen, wenn wir zusammen eine Nacht in meinem Bett verbringen würden. Du weißt, wir sind tief miteinander verbunden. Es ist einer meiner Wünsche und ich hoffe von ganzem Herzen, dass du ihn mir nicht verweigern wirst.“
Ich war völlig erstaunt und musste sofort an die Kunstsammlerin denken, die all ihre Wände in ihrem Haus voll mit Kunstwerken bestückt hatte. Ich hatte ihr viele Werke verkauft. Sie war krank geworden und als ich mit ihr schlafen wollte, war es zu spät. Sie fühlte sich zu krank, um im Bett noch einiges unternehmen zu können.
Nach ihrem Sterben vermittelte ich anderen Personen viele Werke aus ihrer Sammlung.

Ich sagte ihr, nachdenklich und langsam, dass ich ihr es so bald wie möglich mitteilen würde. Sie schaute mich mit einem traurigen Blick in den Augen an und sprach:
„Dann könnte es zu spät sein!“
Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte und durchsuchte meinen Terminkalender. Ich konnte einige Termine absagen. Dann hörte sie von mir, dass ich sie innerhalb einer Woche besuchen könnte. Sie war zufrieden und sagte:
„Das ist in Ordnung. Danke schön.“
Ich kam zu ihr und in der Nacht teilten wir uns ihr großes Bett. Es war ein Kunstwerk und so groß, dass man sich mit Mühe noch wiederfinden konnte. Bei uns passierte das nicht, denn wir lagen fest aneinander. Ihr Körper fühlte sich trotz ihrer Krankheit noch ausgezeichnet an und in mir spielte The Police:
„No lonely, no lonely, no lonely
No lonely, no lonely, no lonely
No lonely, no lonely, no lonely”
Sie fragte mich, warum ich damals nicht ja gesagt hatte. Ich antwortete:
„Das weißt du ohne Frage noch!“
„Daran erinnere ich mich nicht mehr“, sagte sie.
Ich wusste nicht, ob sie die Wahrheit sprach. Es könnte sein, dass ihr Erinnerungsvermögen nicht mehr so gut war.
Ich teilte ihr augenblicklich mit, was ich damals gesagt hatte, ich sei ein ausgebildeter Kunsthistoriker und jetzt ein Kunstvermittler/Kunstkritiker und überzeugt von bestimmten Prinzipien.
„Weißt du, dass ich mir danach immer noch ein Kind von dir gewünscht habe und von keinem anderen Mann. Im Grunde genommen, reichen fünf Kinder doch auch, findest du nicht?“ flüsterte sie mir ins Ohr.
„Jetzt sage ich dir nicht mehr nein. Ich trug dich immer in meinem Herzen mit“, kam ganz emotional, mit Tränen in meinen Augen, leise aus meinem Mund und wir krochen noch fester aneinander.
Am nächsten Nachmittag wollte ich gehen, aber sie fing an, schlimm zu husten und war wackelig auf den Beinen. Ich sorgte dafür, dass sie zurück ins Bett kam und blieb bei ihr.
Der Hausarzt besuchte sie, nachdem ich ihn angerufen hatte. Er kannte ihre Situation gut und bat mich, bei ihr zu bleiben. Das konnte ich nicht ablehnen und so übernachtete ich nochmals bei ihr, aber jetzt in einem anderen Bett in ihrem Schlafzimmer. Ich wusste noch überhaupt nicht, wie lange das wohl dauern könnte.
In den Nächten brachte ich ihr häufig einiges zu trinken. Sie hatte Schmerzen, freute sich, dass ich bei ihr war.
In mir klang immer das Lied:
„Gib mir deine Hand und lass mich nicht alleine.
Gib mir deine Hand und lass mich nicht alleine.
Gib mir deine Hand und lass mich nicht alleine …“
Ich ließ sie nicht allein, hielt wie möglich ihre Hand fest und streichelte sie. Insgesamt war ich drei Wochen bei ihr und dann schied sie dahin, während ihrer Hand in meiner lag. Eine herausragende Künstlerin, eine liebevolle Freundin war verschieden.
In diesen drei Wochen waren wir uns noch näher gekommen. Wir redeten über wie alles anders hätte verlaufen können; über ihre Kunst; ihre Männer, die sie während dieser Tage nicht empfangen wollte – ihre Kinder bekamen Termine, um sie zu besuchen. Ja, sie wollte ausschließlich allein mit mir sein.
„Mein Leben ist Kunst und meine Kunst ist Leben. Das Ende meines Lebens auf dieser Welt gehört auch dazu“, sagte sie während dieser Zeit wiederholt zu mir, „ich bestimme, was jetzt wichtig für mich ist. Du bist Teil meines Lebens.“
Sie erzählte mir, sie habe beim Notar ein Testament und eine Vorsorgevollmacht machen lassen.
„Die Ausstellung, auf der wir vor einem Monat einander getroffen haben, ist meine letzte Ausstellung gewesen. Während meiner Ausstellungen habe ich immer aktiv eingegriffen. Jetzt geht es nicht mehr und das schmerzt. Nach meinem Leben hier auf dieser Welt dürfen noch meine Filme gezeigt und Klanginstallationen gehört werden. All das andere muss zerstört werden, ausnahmsweise das eine Fenster nicht. Ich denke, das geht leicht, denn ich habe Projekte gemacht, wovon nach einiger Zeit nichts übrigblieb. Falls Personen, Museen, Betriebe noch Kunstwerke von mir haben, ja dagegen kann ich nichts machen. Lange werden diese Werke jedoch nicht existieren. Ich weiß, wie schnell das Ende dieser Werke eintreten könnte“, sagte sie mir noch.

Wir redeten so am Tage viel miteinander und dann war ihr Leben hier beendet. Am nächsten Morgen ging ein Lied durch meinen Kopf. Ein Lied eines Schlagerkaisers – an seinen Namen erinnerte ich mich nicht mehr so gut:
„Aus dem Gleichgewicht bin ich erwacht.
Aus dem Gleichgewicht hast du mich gebracht.
Ja, was hast du doch mit mir gemacht?“

Sie wurde auf einem Naturfriedhof beerdigt. Wenige Leute waren eingeladen worden und wie verabredet, durfte ich eine kleine Rede halten.
Bald nach ihrem Begräbnis pilgerten viele Leute zu dem Friedhof, aber ihr Grab war nicht zu finden. So wollte sie das. Einige Eingeweihte wussten, wo es war.